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14. Oktober 2015

Impulsvortrag Maria Bitzan: Das Soziale von den Lebenswelten her denken

Prof. Dr. Bitzan von der Hochschule Esslingen steuerte den zweiten Impulsvortrag zu dem diesjährigen Bundeskongress Soziale Arbeit bei. Sie gab dem Vortrag den Titel „Das Soziale von den Lebenswelten her denken – Zur Produktivität der Konfliktorientierung für die Soziale Arbeit.“ Wir bieten Ihnen wieder Zusammenfassung sowie Audiomitschnitt des Vortrages.

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Bisher sind in unserer Reihe zum 9. Bundeskongress der Sozialen Arbeit erschienen:

Eröffnungsveranstaltung sowie allgemeine Informationen zum Bundeskongress

Impulsvortrag Stephan Lessenich: Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so

Hier nun der Vortrag von Prof. Dr. Bitzan:

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In der Mikroebene, im Bezug auf Lebenswelten und AdressatInnen, wird das Politische erkennbar. Konflikte zwischen allen AkteurInnen sind möglich, sie sind jedoch negativ besetzt. Aber alle Konflikte enthalten immer strukturelle Widersprüche. Nicht alle strukturellen Widersprüche sind Konflikte, sondern werden als Unbehagen oder Unstimmigkeit wahrgenommen. Diese wahrzunehmen heißt auch, gegen Bewegungen vorzugehen, die attraktive Glättungen vornehmen wollen. Der Vortrag ist in fünf Themenbereiche gegliedert.

1. wird auf die Konfliktperspektive eingegangen. Diese ist oft eng gefasst, in der Interaktion sieht mindestens eine AkteurIn eine Unvereinbarkeit. Hier ist aber auch eine gesellschaftliche, weite Fassung möglich. Es können z.B. gegensätzliche Interessen und nicht erfüllte Versprechungen thematisiert werden. Es gibt kollektivierbare Konflikte, die auf gesellschaftliche Strukturen hinweisen. Konflikte konstituieren also auch die Gesellschaft. Soziale Arbeit kann dabei eine produktive Haltung einnehmen: Konfliktinterpretationen machen bewusst, wie Gesellschaftsordnungen hergestellt und Veränderungen bewirkt werden. Dies deckt Widersprüche auf, welche in gesellschaftliche Diskussionen eingebracht werden können.

2. wird der Soziale Konflikt thematisiert: Gesellschaft ist eine Arena von Konflikten. Soziale Konflikte bestehen im ständigen Kampf um Anerkennung. Dies geschieht in drei Sphären, als Kampf zwischen Liebe und Körpergewalt; Recht und Entrechtung; Wertschätzung und Entwürdigung. In diesen Sphären erlebte Verletzungen führen zu negativen Gefühlen. Sind die Gefühle mit Erfahrungen von Kollektivität verbunden, kann Unrecht empfunden werden und Protest ausgelöst werden. Soziale Arbeit kann hier eine Rolle spielen. Soziale Konflikte verweisen auf Widersprüche, die normalerweise individualisiert wahrgenommen werden und in der konkreten Lebenswelt auftauchen.

3. thematisiert Prof. Dr. Bitzan das Soziale als Diskurse in Verhältnissen. Ambivalenz in der Lebenswelt kann als Dialektik von Verfügbarkeit und Gelingen wahrgenommen werden. Charakteristisch im Alttag ist die Erlebbarkeit der Widersprüche. Sozialstaatliche Rahmungen regulieren, wie Menschen leben sollen, wenn sie akzeptiert werden wollen. Bei Anerkennungskämpfen geht es darum, welche Bedürfnisse akzeptiert werden und wie diese befriedigt werden dürfen. Diese Entwicklung ist dynamisch. Soziales ist also nicht statisch. Es manifestiert sich in Konflikten und Bewältigungen, egal ob sozial anerkannt oder abgelehnt. Es legt eine Spur des Unbehagens, wie z.B. in Armut oder dem Umgang mit Geflüchteten.

Bezogen auf Geschlechterpolitik scheint es, als wären die Anforderungen der Frauenbewegung erfüllt. Anerkennungsgewinne für Frauen werden verzeichnet. Diese Konfliktlösungen haben jedoch Grenzen. Dies manifestiert sich in hierarchischen Ordnungen, Gewaltverhältnissen, Missachtung von Carearbeit und Individualisierungen von fehlgeschlagenen Lösungen.

Es gibt auch einen sozialpolitischen Verdeckungszusammenhang: Jenseits der Erwerbsarbeit wird jede Arbeit, wie Carearbeit, als selbstverständlich abgewertet. Bilder von starken Frauen können Leitbilder bieten, die Zumutungen für Frauen bedeuten. Scheitern oder Gelingen wird individualisiert. All diese Entdeckungen ergeben einen Verdeckungszusammenhang.

4. geht Frau Bitzan auf die Rolle der Sozialen Arbeit ein. In ihr wirkt auch der Verdeckungszusammenhang. Es erfolgt die Umwandlung von einer politischen zu einer pädagogischen bzw. sozialarbeiterischen Frage. Dies führt zu Zielgruppen, folglich wird nur ein Schwerpunktthema den AdressatInnen zugeschrieben. Konstruktion von Zielgruppen und Problematiken wird auch zur Aufgabe von SozialarbeiterInnen gemacht. Probleme werden als Mangel an Kompetenz der Personen und nicht als gesellschaftliches Problem wahrgenommen. Der Kampf um Anerkennung scheint sich auf diesem Weg in das Innere von Individuen zu verlagern, die Sphäre der Politik bleibt außen vor. Das Streben nach Selbstachtung hat keinen Bezugspunkt mehr. Der ökonomische Standpunkt in der Politik ist häufig der gewichtigste.

5. kann die Adressatenorientierung als Chance verstanden werden. Konflikte werden nicht nur im Rechtsrahmen, sondern auch in der konkreten Handlungsebene erlebt. Konfliktorientierte Arbeit wird häufig als unmodern und zu kompliziert dargestellt. Diese Konfliktorientierung ist jedoch produktiv:

Durch weniger Adressierungen als Konfliktreduktion werden Gewissheiten verlassen und Adressierungspraxen können reflektiert werden. Adressierungen reduzieren Konfliktpotentiale, sie konstruieren Gruppen zu einem bestimmten Zweck der Problembearbeitung. Es wird verallgemeinert, wie AdressatInnen seien, was sie könnten oder nicht könnten. Zuweisungen als Schüler können zB Erklärungsnot für schulischen Misserfolg bei dem Handeln des Individuums als Schüler verkürzen. Andere Rollen, auch die Rolle der BeobachterIn, werden außen vorgelassen. Auf der Klientenseite äußert sich die Adressierung durch Unbehagen, Schweigen oder gestische Ablehnung. Auf der professionellen Seite können Ungenauigkeit oder Paternalismus festgestellt werden, man meine es schließlich gut. Aber die Lebenswelt wird reduktionistisch wahrgenommen. Der Gegenvorschlag lautet daher, einen relationalen AdressatInnenbegriff zu verwenden, durch den für die AdressatInnen weitere Reaktionsmöglichkeiten geöffnet werden.

Das Soziale kann von der Lebenspraxis her gedacht werden, um Zugang zu erweiterten Erkenntnissen zu erlangen. Widersprüchliche Verhaltensweisen der AdressatInnen können als Erkenntnisfenster wahrgenommen werden. Also weniger Diagnosen, mehr ein Fallverstehen. Weder AdressatInnenseite noch die professionelle Seite soll alleingültig dastehen, sondern es sollte für einen Ausgleich der beiden Seiten gesorgt werden. Andere Rollen sollten also wahrgenommen werden. Dieses gemeinsame Herausfinden kann in offenen Zugangsmöglichkeiten geschehen.

Die Artikulation und Stärkung der AdressatInnenposition, also Artikulationschancen, sollten durch formalisierte Widerspruchsrechte ausgebaut werden. Betroffenheiten müssen thematisiert werden, nicht Zugehörigkeit zu einem Klientel wie „Frau“ oder „Jugendlicher“. Am Verhalten von Trägern und Institutionen sollte sich etwas ändern.

Konfliktorientierung wirkt also als politische Haltung gegen Standardisierungen, Reduzierungen und Personalisierungen.

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